Tränen rinnen unaufhörlich...

04.11.2024

…aus meinen Augen und nehmen mir die klare Sicht. Dabei wäre die gerade jetzt so bitter nötig. Wir irren nämlich schon eine Stunde lang mit dem Auto durch Potosí und suchen den Weg zur Ruta 5, die uns heute nach Uyuni führen sollte. Aber das Klima hier auf 4000 Meter über Meer ist extrem trocken. Meine ohnehin schon sehr trockenen Augen schmerzen hier oben und sind stets derart gereizt, dass sie paradoxerweise pausenlos Tränenflüssigkeit absondern. Ich sollte aber auf meinem Handy mittels Google Maps den richtigen Weg finden. Von Cayara aus bis nach Potosí war das möglich, aber jetzt wird es aus verschiedenen Gründen immer schwieriger: Ich kann den Bildschirm meines Handys nicht immer klar erkennen. Ausserdem habe ich einen üblen «Käfer» eingefangen, der beschlossen hat, meinen Darm ins Chaos zu stürzen. Und dann stimmt auch noch die Karte nicht: Rechts abbiegen ist nicht möglich, weil man mit dem Auto nicht über Treppen abwärts fahren kann. Die Gasse links ist so eng und geht beinah senkrecht abwärts, dass man unter keine Umständen wenden könnte, sollte sich herausstellen, dass der Weg falsch ist. Zum Glück verliert Lukas seine Nerven nicht, meine liegen schon längst blank. Mein Darm tanzt derweil Tango und ich weiss nicht, wie diese Situation mitten in den engen Gassen Potosís zu lösen ist. Plötzlich befinden wir uns dank Lukas' guter Orientierungsgabe endlich ausserhalb der Stadt. Zwar in der falschen Richtung beim Flughafen, aber immerhin gibt es hier Orte, wo man übermütige Därme wieder zur Ruhe bringen kann. Etwas später versuchen wir unser Glück nochmals aus der anderen Richtung und tatsächlich: Es gelingt uns, den Anschluss an die Ruta 5 zu finden. Mirjam und Arda sind bereits weitergezogen. Sie hatten eine Marktfrau mitgenommen und in der Stadt abgesetzt. Trotzdem fanden sie den Weg aus Potos´i problemloser als wir, deswegen baten wir sie, nicht auf uns zu warten.

Geschunden ist die Landschaft rund um Potosí vom Minenbau und der Kalk- und Lithiumindustrie. Kein Gewässer, das nicht schäumt. Zu dieser Zeit sind zwar die meisten Flüsse ausgetrocknet. Aber in den Flussbetten schimmern alle möglichen ungesunden Farben. Am Stadtrand fahren wir quer durch verschiedene Minengebiete. Überall türmt sich der Auswurf aus den Stollen. Die Stadt wurde vor fünfhundert Jahren reich mit Silber. Heute werden auch noch weitere Edelmetalle abgebaut. Auch Kinder arbeiten in den Stollen. Offiziell dürfen das in Bolivien Kinder schon ab zehn Jahren. Aber man hört immer wieder auch von jüngeren Kindern, die in der Nachtschicht eingesetzt werden, da dann keine Kontrollen stattfinden. Touristen können die Minen gegen Eintritt besichtigen und als zynische Attraktion den dort arbeitenden Kindern Sprengstoffkapseln schenken. Diese bekommt man gleich in der Tienda beim Mineneingang. Wir haben beschlossen, auf diesen Besuch zu verzichten. Mirjam formuliert es so: «Die Menschen arbeiten dort hart und unter unmenschlichen Bedingungen. Es ist respektlos, hinzugehen und ihnen dabei zuzuschauen, als ob es irgendeine beliebige Touristenattraktion wäre.»

Auf der Fahrt nach Potosí versinke ich in einer Art Delirium. Die Höhe macht mir zu schaffen, meine Augen schmerzen stark und meine Eingeweide rebellieren fast ununterbrochen. Ich lasse im Liegesitz die Landschaft mit halbgeschlossenen Augen an mir vorbeiziehen und alles kommt mir vor wie ein Traum. Die Strasse von Potosí nach Uyuni gilt als eine der schönsten Boliviens. Dieser Klassifizierung macht sie wirklich alle Ehre. Wir kurven über 4200 Meter hohe Pässe und immer wieder wandelt sich die Landschaft von einem Extrem ins andere. Felsenberge in verschiedenen Farben: Rot, Grün, Grau, Gelb, ausgetrocknete Flusslandschaften, baumhohe Kakteen, schneeweisser Sand, märchenhafte Felsformationen am Strassenrand. Und immer wieder sind da weidende Herden von Vikuñas und Alpakas. Es kommt mir alles so unwirklich vor, wie in einem Fiebertraum. Ein uraltes Gleis der Bahnverbindung Potosí – Uyuni kreuzt immer wieder unseren Weg. Seit der Coronakrise ist auch diese Strecke aufgegeben worden. Für die 200 Kilometer brauchen wir einen ganzen Tag, weil wir so oft anhalten müssen um zu bestaunen, was uns die Landschaft bietet. Die letzten 60 Kilometer vor Uyuni fahren wir übers Altiplano, eine unendliche, weiss besandete Ebene, durchbrochen von überdimensionierten Grasbüschen, gesäumt von über 5000 Meter hohen roten und fast unbewachsenen Gebirgsketten. Bald kann man weit unten die Salzsee-Ebene von Uyuni erkennen. Mirjam und Arda haben dort ein Hotel ausfindig gemacht, das auch einen gesicherten Platz für ihren Camper anbietet. Als wir schliesslich durch Uyuni rollen, kommt es mir vor, als führen wir geradewegs durch Ulan-Bator oder noch schlimmer: durch die Hölle. Vielleicht empfinde ich das so, weil ich mittlerweile zu erschöpft bin von der langen Reise. Die Stadt besitzt lauter 50 Meter breite Staubstrassen, die in rechten Winkeln angeordnet sind. Die Häuser sehen aus, als ob um sie herum gerade ein Krieg stattgefunden hätte. Man scheint hier in rasendem Tempo Wand um Wand hochzuziehen, ohne jedoch irgendeinen der vielen Neubauten fertigzustellen. So starren uns auf unserem Weg überall dunkle Fensterlöcher aus halbfertigen Backsteinmauern entgegen. Kein Mensch ist auf den Strassen zu sehen. Nur Hunde. Und die dafür in unzähligen Rudeln. Langsam wird es Abend als wir beim Hotel «Nido del Flamenco» (Nest des Flamingos) eintreffen. Es wirkt wie ein Paradies inmitten der Hölle. Sauber und weiss stehen da zwei Häuser inmitten von tausend Bauruinen und staubtrockenem Brachland. Die Besitzerin ist sehr freundlich und meint: «Klar kann der Camper im Hof stehen. Duschen könnt ihr gratis. Am Ende gebt ihr uns dafür einfach ein kleines Trinkgeld.» Lukas und ich beziehen ein winziges Zimmerchen, dessen Wände aus reinen Salzsteinen bestehen. Doch ich bin viel zu müde, um mich darüber zu wundern und sinke sofort ins Bett.