Es gibt verschiedene Arten, mit Trauer...

05.05.2023

...umzugehen. Heute erleben wir zwei davon. Die Geschichte vom Erdbeben und der vollständig zerstörten Stadt Gibellina lässt uns nicht mehr los. Aber nicht nur Gibellina war nach dem Beben vor 55 Jahren dem Erdboden gleich gemacht, sondern natürlich auch andere Dörfer. Zum Beispiel Salaparuta und Poggioreale.
Heute müssen wir nach Palermo, um meinen liegengelassenen Pass zu holen. Fast im Vorbeiweg liegt das Bélice-Tal, wo 1968 die Erdbebenkatastrophe stattgefunden hat. Naheliegend also, nochmals hinzufahren. Gibellina Vecchia interessiert uns, weil durch den Bildhauer Alberto Burri auf einem Teil der Stadt eine Art künstlerischer Sarkophag in stilisierter Form des Stadtgrundrisses errichtet wurde. Der Name dieses Kunstwerks ist  "Cretto": Die Ruinen der Häuser wurden auf einer Fläche von 300 x 400 Metern bis in die Höhe von etwa 1.60 Metern von weissem Beton umgossen, um den Besuchern etwas von der Enge der damaligen Gassen zu vermitteln und um ein Mahnmal zu errichten. Auf dem Rückweg von Palermo fahren wir also nach Gibellina Vecchia, das sich zwanzig Kilometer entfernt vom neuen Gibellina im Bélice-Tal befindet. Die Umgebung ist so total anders. Wir fragen uns, warum man damals wohl alle Menschen umsiedeln wollte. Wenn es nur im die Sicherheit gegangen wäre, dann dürfte nämlich auf ganz Sizilien kein Mensch mehr wohnen. Die ganze Insel (und übrigens auch ganz Italien) gehört ja zu seismischen Gefahrenzonen.
Von den Ruinen in Gibellina Vecchia ist tatsächlich nicht mehr viel zu sehen. Der weisse Betonguss über dieser riesigen Fläche ist begehbar und beeindruckt einerseits schon.  Andererseits wird man den Verdacht nicht los, dass da ein Künstler weniger einen Beitrag zur Trauerarbeit der Bevölkerung leisten, sondern eher sich selbst inszenieren wollte. Aber vielleicht tun wir ihm mit dieser Behauptung auch Unrecht, wer weiss. Immerhin mussten ja die ehemaligen Einwohner mit dieser Art der Gestaltung einverstanden gewesen sein. Wir nehmen eine der steilen Gassen im "Cretto" und gehen bis ganz zuoberst. Das Gefühl ist beklemmend. Vor allem,  wenn man sich vorstellt,  was da alles unter diesem weissen, zentnerschweren Betonguss ruht. Keine Menschenseele ist da, und über allem ist es totenstill. Von oben haben wir den Überblick über das Tal. Weiter hinten erkennen die Ruinen von Salaparuta und es ist uns sofort klar, dass wir sie ebenfalls besuchen müssen.
Wir fahren weiter. Die Landschaft ist wunderschön. Das Tal ist zwar verlassen, die Felder werden aber alle bestellt. Es dauert nicht lange, bis wir die ersten Ruinen erreichen. Bei einem riesigen verrostetem Tor steigen wir aus. Ein Feldweg führt an einigen eingestürzten Bauten vorbei. Verbogener Stahl ragt aus Trümmern in den Himmel. Steinhaufen werden von duftenden Blumenmeeren überwuchert.  Und auf einmal stehen wir unterhalb einer riesigen Freitreppe, die eigentlich ganz normal wäre, wenn sie oben nicht ins Leere führen würde. Vor über fünfzig Jahren stand an ihrem Ende eine stattliche Kirche. Heute sind da nur noch einige wuchtige Säulen, Mauerreste, Fragmente von Rundbögen, Reste eines Altars. Die ganze Ruine ist merkwürdig sauber und ordentlich, der Boden wie frisch gefegt.  Es wirkt hier eher wie eine archäologische Ausgrabung. Plötzlich ist es uns klar: Man hat diesen Ort ganz bewusst schön aufgeräumt,  um ihm seine Würde zurückzugeben, ihn in Ehren zu halten. Vielleicht eine andere Art der Trauerarbeit als in Gibellina Vecchia.