2020: 360 Km zu Fuss in Etappen von Fehraltorf/ZH nach Erschmatt/VS
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3.5.2020
Man kann die Wege auf der Karte magnetisch...
...verschieben. Doch zuerst muss man mit der Maus den Start- und den Zielpunkt markieren. Der 213 Kilometer lange Fussweg legt sich dann wie von Zauberhand zwischen die Berge, Täler und Flüsse. Meinen Weg von zu Hause bis ins Wallis kann ich auf diese Art ziemlich einfach planen.
Ich gerate ins Träumen... Im
meinem Kopf entstehen Bilder von Flüssen, die träge durch sommergrün bewaldete
Auen fliessen oder sich tosend durch Schluchten zwängen. Die Luft flimmert vor
Hitze. Staub überall, kein Schatten in Sicht. Der Schweiss brennt in meinen
Augen. Ich verfluche mich und meinen blöden Plan, zu Fuss diese Riesendistanz zu
laufen. Und dann irgendwann werde ich nach oben steigen, mit einem Puls auf einhundertzwanzig
Schlägen pro Minute. Vielleicht in Regen und Wind. Es geht über bunte Bergwiesen
und durch lichte Nadelwälder. Manchmal stundenlang keine einzige Begegnung. Innerlich
durchlebe ich schon das Hochgefühl, wenn die Passhöhe erreicht ist! Aber die
Füsse... die Füsse tun weh. Sie surren auch nachts im Schlaf und fühlen sich
an, als ob sie trotzdem noch weiter liefen, immer weiter...
Wenn ich es tun möchte... also,
wenn ich wirklich von zu Hause zu Fuss bis ins Wallis möchte... dann muss es wohl schon
noch diesen Sommer sein. Jedes Jahr später könnte bedeuten, dass ich dazu nicht
mehr genügend Kraft habe.
Eins habe ich in diesem Leben gelernt: Die Dinge, die einem wirklich wichtig sind, die sollte man nicht aufschieben bis es zu spät ist.

10.5.2020
Etappen sind eigentlich...
...nicht so mein Ding. Schon lieber würde ich eines Tages einfach von zu Hause aus loslaufen. Es wäre toll, immer weiter zu gehen, sich abends irgendwo ein Schlafquartier zu suchen oder den Schlafsack auf freiem Feld auszurollen. Irgendwann zwei strapaziöse Wochen später, nachdem ich unzählige Wälder, Gewässer, Schluchten, Hügel, Ebenen und Pässe hinter mir gelassen hätte, würde ich eines Tages unsere zweite Heimat im Wallis erreichen.
Doch wahrscheinlich kann Lukas dieses Jahr erst später in die Sommerferien abreisen. Meine Ferien beginnen aber schon einiges früher. Auf später vertagen möchte ich das Projekt eigentlich nicht, denn in unserem Alter sollte man seine Träume leben und nicht aufschieben. Womöglich kommt einem sonst plötzlich die eigene Endlichkeit in die Quere. Aber dieses Jahr müsste ich dann wohl den grössten Teil der Reise alleine unter die Füsse nehmen. Warum denn überhaupt auf Plan A beharren, wenn auch ein Plan B möglich ist? Schliesslich möchten wir ja unsere Ferien wirklich sehr gerne zusammen verbringen. Also beschliessen wir, den ersten Teil unserer Reise in Etappen an den Wochenenden zu starten. Es hat ja durchaus auch seinen Reiz, wenn man dann zum eigentlichen Ferienanfang ein bisschen schummeln und den Fussmarsch ins Wallis beim zuletzt erreichten Ziel starten kann.
Und so machen wir uns heute auf zur 1. Etappe: Zu Fuss nach Zürich. Es hat die ganze Nacht geregnet. Deswegen möchten wir auch gar nicht so früh aufstehen. Der Morgen startet bewölkt aber trocken. Die Temperatur ist ideal zum Laufen. Fast niemand ist unterwegs, als wir um halb zehn losziehen. Die Geografie ist uns zwar von den Autofahrten her bekannt. Schliesslich besuchen wir oft die Einkaufszentren und Baumärkte der Region, die fast alle an dieser Strecke liegen. Aber da wir uns jetzt ausschliesslich an die Fusswege halten, entdecken wir nun trotzdem eine völlig neue Welt, ganz in saftigem Grün. Die Sonne kommt bald und mit ihr das Zwitschern, Zirpen, Surren und Quaken überall aus Wiesen, Wäldern, Seen, Weihern und Bächen. Der Duft nach feucht dampfender Erde, den Ähren der Kornfelder und den Blüten am Wegrand erinnert an glückliche Kindertage im Sommer. Wir lassen uns verzaubern von Moorlandschaften am See, von moosgrünen Felsen in den Bachtobeln und von den Sonnenreflexen überall im glasklar sprudelnden Wasser. Fast am Ende unserer Wanderung noch ein kurzer Blick auf unser Ziel, den Zürichsee weit unten zwischen den Bäumen. Aber zuerst geht es noch vorbei am riesigen steinernen Elefanten, der immer noch wie zu unseren Kinderzeiten stoisch im Bach steht und Dutzende Kinder auf seinen Rücken klettern lässt. Und dann haben wir's geschafft: Fünfeinhalb Stunden nach dem morgendlichen Start sind wir nach 23 Kilometern Fussmarsch am Bahnhof in Zürich angekommen.
Und zuerst dachte ich tatsächlich, Etappen wären nicht so mein Ding. Aber jetzt kann ich die Nächste kaum mehr erwarten. Sie führt von Zürich über den Albispass.
17.5.2020
Die ältere Dame auf der Kufe des Helikopters...
...weit oben am Himmel und der lachende Splitternackte auf dem Balkon am Haus direkt neben dem Bahngleis, diese beiden surrealen Bilder werde ich wohl noch länger mit unserer zweiten Etappe verbinden. Die genauen Umstände dieser beiden Szenen werden wir nie erfahren, aber das ich finde auch nicht unbedingt nötig.
Wir sind früh aufgestanden nach einer wirklich kurzen Nacht. Ich habe bis in die frühen Morgenstunden noch an einem Text herumgefeilt und konnte ihn lange Zeit einfach nicht auf den richtigen Punkt bringen. Sonntage sind ja eigentlich zum Ausschlafen da. Aber nicht, wenn die zweite Etappe ansteht! Ausserdem bietet uns heute das strahlende Wetter auch keine vernünftige Ausrede, den Tag später anzugehen.
An diesem sonntäglichen Frühsommermorgen liegt das Seeufer in Zürich in seinem ganz eigenen Zauber. Ein paar wenige Jogger sind schon unterwegs. Ansonsten gehört der Park noch ganz den vielen Singvögeln. Wir können weit weg am Horizont die Silhouette der Albis-Bergkette erkennen und es kommt uns schon reichlich sonderbar vor, dass wir sie schon bald von hier aus erreichen und überqueren werden. Durch verschlafene Wohnquartiere arbeiten wir uns langsam empor in Richtung des Üetlibergs. Und ganz unvermittelt nimmt es mir den Atem, als wir nämlich wir plötzlich vor jenem Haus stehen, in dem ich viele Jahre lang unzählige wundervolle Sommertage zusammen mit einer ungestümen Kinderhorde verbracht hatte. Die Pflegeeltern meiner Mutter hatten hier gewohnt. Sommer für Sommer durften sich die Kinder des Quartiers in ihrem riesigen Garten treffen und ich fühlte mich selbstverständlich wohl aufgehoben in dieser abenteuerlichen Kinderbande. Haus und Garten haben sich seither wenig verändert, nur die vielen Kinder von früher fehlen natürlich. Aber in meinem Geist höre und sehe ich sie immer noch als wilden Haufen durch die Gärten sausen. Es riecht wie damals nach Glück und nach Sommerblumen, und ich freue mich sehr über das unerwartete Geschenk, das mir der heutige Tag soeben gemacht hat.
Den Aufstieg zum Üetliberg habe ich anstrengender in Erinnerung. Fast im Nu haben wir die Höhe erreicht. Einen Mann im blau karierten Hemd haben wir immer im Genick, bis wir ihm irgendwann den Vortritt lassen. Die Sicht auf den leuchtendblauen Zürichsee, die Stadt und die Weite des Zürcher Oberlands ist grandios. Weiter geht's entlang der saftgrün bewaldeten Rückseite des Üetlibergs über Wiesenhügel, bis der Berg irgendwann seinen Namen wechselt und fortan Albis heisst. Der Blick geht weit nach Westen und verliert sich dann irgendwo im blauen Dunst. Wir folgen dem Reppischtal, freuen uns über die hübsche Landschaft; überall Wiesen, Wälder und wenige Siedlungen. Weiter vorn läuft unser Freund im blau karierten Hemd noch immer. Wir lassen ihn vorausziehen, weil er uns schon lange immer wieder äusserst irritierte Blicke über die Schulter zuwirft. Kurz vor dem Müliberg erreichen wir das uralte, stillgelegte Bergwerk Riedhof, wo vor 250 Jahren ein Bauer per Zufall auf seinem Land ein Braunkohlevorkommen entdeckte. Der Kanton Zürich fackelte nicht lange, enteignete den Bauern unverzüglich um anschliessend die Kohle selber gewinnbringend zu fördern. Lukas entfacht eines seiner Mini-Grillfeuer und wir haben alle Hände voll zu tun, das regenfeuchte Holz zu trocknen und das Essen vorzubereiten. Das hilft mir dabei, dass ich mich nicht zu sehr über die Geschichte vom enteigneten Bauern ärgere.
Nach dem Essen geht's über die weiten Weiden des Mülibergs und schon bald durch den Wald hinunter nach Affoltern am Albis. Am Bahnhof, fünfeinhalb Stunden und 20 Kilometer nach dem Abmarsch vom Bahnhof Stadelhofen in Zürich, treffen wir unseren Freund im blau karierten Hemd wieder, der sich aber nicht anmerken lässt, was er von diesem Wiedersehen hält. Ich hätte noch genügend Energie, um noch ein, zwei Dörfer weiterzuwandern. Aber man sollte nichts übertreiben. Und so fahren wir mit dem Zug in 66 Minuten wieder zurück nach Hause.
Die ersten 40 Kilometer in Richtung Wallis haben wir nun schon! Und es ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe; man braucht wirklich nicht auf den verkehrsreichen Strassen zu laufen. Es gibt genügend Fusswege. Und die sind allesamt bezaubernd.








21.5.2020
Genau so habe ich...
...es mir vorgestellt, als ich von der Reise zu Fuss ins Wallis träumte: Wege durch hellgrüne Waldkathedralen, wo Schwärme von fröhlichen Vögeln jubeln. Immer wieder sind Pferde unterwegs in der Morgenfrische. Die Morgensonne tastet sich mit ihren Strahlen zwischen die Stämme. Es duftet nach Tanne und nach leicht modrigem Waldboden. Die Luft fühlt sich noch kühl an vom verdunstenden Morgentau. Und die Wiesen! Die Felder! Sanfte Hügel Grün in Grün, durchbrochen von Millionen von roten Mohnblumen. Weiter vorn heben sich schon die Schneeberge der Innerschweiz vom blauen Himmel ab. Die Augen schmerzen fast von all dem Grün, Rot und Blau überall. Immer wieder umarmen uns Schwaden aus Heu- , Erd- und Blütenduft.
Und dann die Lorze: Glasklares Wasser in Lichtgrün, gesäumt von einem angenehm kühlen Waldgürtel. Wer sich die Zeit nimmt, kann den Fischen zusehen, wie sie sich stoisch gegen die Strömung stellen. Wir geraten mit einem Mal auf einen schmalen Pfad, der sich durch dichtes Gebüsch am Girschheiweiden-See vorbeischlängelt. Ein verzauberter, klarer Waldsee voller Seerosen mit einer üppig bewachsenen kleinen Insel an seinem Rand.
Irgendwann überschreiten wir die Grenze zum Kanton Zug und erreichen bald Frauenthal, einen kleinen Ort, bestehend aus dem riesigen Gutshof des Zisterzienserinnen-Klosters aus dem Jahr 1669, einer Schleuse und einigen wenigen Häusern. Im Gewölbe der Klosterkirche beeindruckt mich das Bild des Regenbogens über den Wolken: Das Symbol der Liebe und des Friedens zwischen Gott und den Menschen gefällt mir sehr.
Die gelben Wegweiser künden jetzt plötzlich von «Friesencham» und «Lindencham». Wir sind eigentlich davon ausgegangen, heute von Affoltern am Albis auf unserer dritten 20-Kilometer-Etappe einfach nach Cham zu wandern. Aber mit diesen beiden wohlklingenden Namen haben wir wirklich nicht gerechnet. Unsere Kenntnisse über Schweizer Orte konnten wir damit nun massgeblich erweitern.
Der Lorze entlang meistern wir nun auch noch den Rest der Strecke. Wir sind wirklich dankbar um den Schatten, denn heute ist es schon sommerlich warm. Kein Wunder also, baden im Zugersee bei Cham schon so viele Sonnenhungrige. Eine kurze Rast im hübschen Vilette-Park, wo es sehr ruhig und beschaulich zu- und hergeht. Diszipliniert halten die Menschen Abstand zueinander und geniessen den freien Tag am See unter den uralten Bäumen.
Bald schon sitzen wir einander im Zug Richtung nach Hause gegenüber und sind glücklich, wie schön und besonders reizvoll auch unsere dritte Etappe gewesen ist.









31.5.2020
Mit den Tränen einer Velofahrerin...
...und dem tiefblauen Zugersee startet unsere 4. Etappe morgens um Viertel nach neun in Cham. Das mit den Tränen ist übrigens nicht weiter tragisch. Die Frau hat gerade ein Insekt im Auge und hat deswegen am Wegrand angehalten. Der vorbeirasende schlecht gelaunte Rennvelofahrer schreit ihr gehässig zu, sie versperre ihm den verdammten Weg. Sie hat ihn tatsächlich um etwa 0.035 Breitengrade vom Kurs abgebracht. Wahrscheinlich hat sie ihn deswegen um einige wichtige Hundertstelsekunden seines erstrebten Geschwindigkeitsrekords gebracht. Ich bin froh, dass er uns in seinem Geschwindigkeitsrausch nicht übersehen und über den Haufen gefahren hat. Wir lachen ein bisschen zusammen mit der irritierten Velofahrerin über Menschen, die vor lauter schlechter Laune keinen Blick mehr haben für diese liebliche Morgensonnenlandschaft.
Die Kirschbäume hängen so üppig voll mit Früchten, wie wir das noch selten gesehen haben. Unser Weg führt sanft aufwärts. Wir überschreiten die Kantonsgrenze von Zug nach Luzern. Es geht nach Meierskappel und weiter hinauf über Weiden mit Herden von Wasserbüffeln. Ja, sie leben offenbar nicht nur in Asien, sondern eben auch in der Region um Meierskappel. In der Höhe kommen bald gleichzeitig Zugersee und Vierwaldstättersee in den Blick, in der Mitte steht die Rigi. Und wir finden uns plötzlich inmitten von lauter jungen Kastanienhainen. Ein Schild informiert uns über die Wiederansiedlung der Kastanie. Ein interessantes Projekt des Vereins Pro Kastanie Zentralschweiz. (https://kastanien.application-lab.ch/) Wir sind gespannt, wie es hier in ein paar Jahren aussehen wird.
Die Strecke steigt noch immer sanft an. Es geht auf einem Gratweg ganz ohne Talblick bis zur Kapelle Michaelskreuz auf 800 m.ü.M. Der Bau ist völlig unspektakulär. Aber die beiden uralten Linden mit ihren meterdicken Stämmen und der Rundum-Weitblick sind wirklich eindrücklich. Von hier aus können wir sogar bis zum Pfannenstil sehen und darüber hinweg fast bis nach Hause. Das hätten wir nicht erwartet! Die Bise fegt schon seit Tagen tüchtig übers Land. Also weg vom Wind irgendwo in einer gemähten Wiese picknicken. Eine ausgehungerte, magere Katze freut sich über unsere Wursthäppchen, die sie immer wieder aufs Neue im Eiltempo zu einer nahe gelegenen Scheune trägt, wohl um ihre Jungen damit zu füttern.
Bald geht's weiter Richtung Rontal. Wir steigen steil durch einen wilden Wald ab und ermutigen eine Kolonne erschöpfter Wanderer, dass sie auf diesem Weg ganz bestimmt irgendwann Michaelskreuz erreichen werden. Bald kommt ganz weit vorn unser Ziel Ebikon in Sicht. Auch den Rotsee entdecken wir in der Ferne. Er liegt an unserer nächsten Etappe. Die Aussicht ins Tal hält sich jetzt ziemlich in Grenzen. Wir sind froh, leicht erhöht auf dem Rontaler Höhenweg in Richtung Ebikon zu wandern. So können wir Strassen und Industriebauten unten im Talboden getrost übersehen und uns auf die Landschaft unmittelbar am Weg konzentrieren. Die ist nämlich ganz hübsch mit ihren Wiesen, Hügeln und Höfen.
Nach fünfeinhalb Stunden und knapp 24 Fusskilometern haben wir schliesslich den Bahnhof von Ebikon erreicht. Mit dem Zug brauchen wir eine gefühlte Ewigkeit bis Cham. Das macht uns schon ein wenig stolz.
2.6.2020
Der Pirat ist eigentlich ziemlich freundlich...
...als er mir frühmorgens am Bahnhof Ebikon in den Weg tritt und mich am Weitergehen hindert. Aber ausser seiner schwarzen Augenklappe ist auch wirklich nichts an ihm furchteinflössend, wie er da erfreut schnurrend um meine Beine streicht. Sein Fell fühlt sich eher an wie ein struppiges Hundefell, als wie das einer seidigen Katze. Und vor allem ist er entschlossen, mich nicht vorbei zu lassen, bis ich ihm seinen Hals genügend gekrault habe. Normalerweise setzt jede Katze bei mir ihren Willen durch. Natürlich auch Pirat, wie ich ihn sofort taufe. Zum Glück trägt er ein Halsband mit Adresse, so kann ich ihn dann am Ende auch mit gutem Gewissen zurücklassen und mich in Richtung Rotsee und Luzern aufmachen. Der Rotsee schläft spiegelglatt im Morgenlicht. Ab und zu gleitet lautlos ein Kanu dahin und wirft feine Falten ins Wasser. Der Uferweg liegt ganz dicht am See. Es kommt mir vor, als sei die Luft ringsum mit Gezirpe, Gesumme, Gequake und Gezwitscher randvoll angefüllt. Meine Vogel-Bestimmungs-App meldet mir einen Teichrohrsänger, den ich aber leider nirgends entdecken kann im Schilf, obwohl er ohrenbetäubend singt, was das Zeug hält.
Heute laufe ich das erste Stück der 5. Etappe alleine. In Luzern wird meine uralte Kinderfreundin Kat dazustossen, die in dieser Stadt lebt und arbeitet, seit sie vor drei Jahren aus unserem Zürich weggezogen ist. Der Weg nach Luzern ist so kurzweilig, dass ich im Nu dort bin. Ich ersteige den Hügel am Ende des Sees. Das Hochhaus, das mich schon länger von Weitem irritierte, stellt sich als Kantonsspital heraus, und ich verzeihe dem Architekten augenblicklich, dass er diesen rostigen Kasten so dominant ans eine Seeende gebaut hat. Für die Patienten trägt die grandiose Aussicht aufs Wasser ganz sicher zur baldigen Genesung bei. Und dann ist da plötzlich das Ortsschild von Luzern! Ich kann es kaum glauben, dass ich schon an meinem Zwischenziel angekommen sein soll. Sich so nach und nach im eigenen Tempo einer Stadt zu nähern, ist ein ganz spezielles Gefühl. Ich komme mir ein bisschen vor wie eine Reisende aus früheren Zeiten. Ich wandere nun nach unten, von Luzern habe ich eigentlich keine Ahnung, deswegen bin ich auch überrascht, auf ein Schloss am Fluss zu stossen. Da ich sehr früh dran bin, erkunde ich noch ein bisschen das Flussufer. Mister Google-Maps möchte mich aber gerne möglichst schnell über die Brücke bringen, damit ich innert der vorausgesagten Minuten Kats Atelier-Adresse erreiche. Der gute Google surrt also unerbittlich und eigensinnig in mein Handy, bis ich dann eben endlich die Brücke überquere.
Zum Glück laufen wir ab jetzt zu zweit, weil erstens der Weg ziemlich verworren durch einige hektische Verkehrsknotenpunkte führt, und weil mich zweitens die Stahl- und sonstige Industrie am ersten Wegstück der kleinen Emme wohl mit ihrem lautem Getöse, Gekreisch und Geknall in Angst und Schrecken versetzen würde, wäre ich alleine unterwegs. Kat meistert die Pfadfindung tadellos und vor lauter spannenden Gesprächsthemen merke ich wenig vom Schrecken der Industrieriesen. Den Lärmpegel von Emmenbrücke und Littau lassen wir bald hinter uns. Die Emme fliesst geräuschlos, die Sonne brennt schon sommerlich heiss und wir freuen uns, wenn wir ab und zu in den kühlen Schatten des Waldes eintauchen dürfen. Es ist nicht schwierig, auf dem richtigen Kurs zu bleiben. Solange wir den Uferweg nicht verlassen, ist alles im grünen Bereich. Die Wanderung ist nicht wirklich spektakulär, aber wir geniessen die Ruhe und die viele Zeit. Dabei bemerken wir gar nicht, wie schnell wir vorankommen in Richtung unseres Ziels. Ein Picknick und zwei Pausenhalte weiter haben wir das Dorf Schachen erreicht. Der Bahnhof ist winzig. Wir sind nicht sicher, ob hier überhaupt jemals ein Zug hält. Aber es gibt einige Wartende am Perron, also wird es wohl funktionieren mit dem Rücktransport. Eigentlich - so denke ich bei mir - könnte ich auch sehr gut noch zwei Stunden weiter laufen, müde bin ich noch nicht. Das erstaunt mich, denn 26 Kilometer sind ja eigentlich eine beachtliche Strecke. Aber man kann eben nicht müde werden, wenn man mit einer besten Freundin unterwegs ist!
6.6.2020
Millionen Wiesengrillen zirpen heute Morgen von Sonne...
...und Wärme, obwohl der Himmel die Bergspitzen in ziemlich dunkle Wolken hüllt, als wir am winzigen Bahnhof Schachen aus dem Zug steigen. Ob es wirklich die richtige Entscheidung war, heute die 6. Etappe nach Hasle zu laufen? Ich beschliesse, den Grillen und ihrem Wettersinn zu vertrauen. Schliesslich würden sie nicht so fröhlich zirpen, wenn schon bald der grosse Regen käme.
Von Schachen kann man die Abkürzung über die Hügel nehmen und sich so weiter Richtung Süden vorarbeiten. Die Steigung ist sanft und sobald wir eine gewisse Höhe erreicht haben, können wir uns nicht sattsehen am Spiel des Lichts und der Wolken, an den Grünschattierungen der weiten Hügelwiesen mit ihren bimmelnden Kuhherden überall und den weit verstreuten Gehöften. Die gewaltigen Walmdächer der Häuser zeugen von viel Regen und Nässe. Unser Weg führt oft mitten durch die Höfe, wo uns kugelrunde Hunde kläffend versuchen Beine zu machen. Aber wir lassen uns nicht hetzen. Man kann sich nämlich einfach ein bisschen mit ihnen unterhalten. Das beruhigt sie wieder. Sie sind gar nicht so gefährlich, wie sie uns gerne glauben machen möchten. Ein alter freundlicher Bauer mit gelben Zähnen lässt es sich nicht nehmen, uns den richtigen Weg zu zeigen, und eine einsame Wanderin freut sich sehr über ein paar Plauderminuten. Den Schirm habe sie heute mitgenommen, aber sie habe ihn bisher noch nicht gebraucht, erklärt sie. Ja! Die Wolken haben mittlerweile auch schon einige blaue Löcher und schon bald kommt dann tatsächlich die Sonne. Die Grillen haben es schon immer gewusst.
Irgendwann tauchen wir ein in einen moosdunkelgrünen Wald. Steil geht's durch geheimnisvolle Hohlwege immer weiter nach oben. Überall im ganzen Wald wachsen Heidelbeerbüsche; «Heubeeri» wie sie die Luzerner nennen. Bald erreichen wir einen Moorwaldweiher, der spiegelglatt und schwarz ganz wunderschön wie mitten ins goldene Sonnenlicht hingegossen daliegt. Ein idealer Rastplatz für unsere Mittagspause. Wir haben Glück: Die Riesenlibellen halten nämlich gerade ihre Flugshow ab. Die hübschen kleinen Babyfrösche sonnen sich zu unseren Füssen. Und die Grillen? Die Grillen erklären uns noch immer zirpend, dass im Moment kein Regen in Sicht sei! Etwas später geht es weiter. Der Weg führt an zahlreichen mannshohen Ameisenhaufen vorbei. Die kleinen Kerlchen greifen uns in Scharen an und kneifen uns tapfer in die Beine, als wir stehenbleiben, um ihre Bauwerke zu bewundern. Ich pflücke sie geduldig von meinen Hosen und wundere mich, warum meine Finger dabei nass werden. Bis ich daran schnuppere. Da fährt es mir stechend in die Nase und mir wird alles klar: Die haben mich alle ziemlich mit Ameisensäure bespritzt, um sich zu verteidigen.
Bald verlassen wir den Wald. Wir haben 1000 Höhenmeter erreicht und wandern noch einige Kilometer weiter in einem Wolkenhimmel-Blumenwiesenland inmitten von Orchideen und den letzten Sonnenstrahlen, bis es dann wieder abwärts geht nach Entlebuch. Das letzte Stück nach Hasle führt immer wieder auf und ab der kleinen Emme entlang, die hier munter und ganz dicht an senkrechten Felswänden und zwischen Kiesbänken sprudelt. Die fröhlichen Grillen sind nun doch noch verstummt. Und kaum haben wir die alte gedeckte Holzbrücke am Dorfrand erreicht, wirbeln schon die ersten Regentropfen durch die Luft. Beim Bahnhof Hasle regnet es dann wirklich. Aber wir brauchen nicht im Regen zu warten, denn unser Retourzug fährt gerade ein. Das erstaunt uns wirklich, denn wir haben auf unserem ganzen Ausflug niemals den Fahrplan studiert und kommen jetzt hier an, als hätten wir genau auf diese Abfahrtszeit abgezielt.
13.6.2020
"Ein bisschen im Entlebuch herumgewandert, was?"...
...Unser Mitpassagier bleibt stehen, lächelt und macht mit seinem Zeigefinger eine Kreisbewegung in der Luft. Einige Sekunden zuvor ist er an uns vorbeigegangen und hat sich ganz herzlich von uns verabschiedet, so als ob wir gute Bekannte wären. In Wahrheit sehen wir einander soeben zum ersten Mal im Leben. Wir sind gerade alle drei in Hasle aus dem Zug gestiegen und stehen beim wohl winzigsten Bahnhofsparkplatz ganz Europas. Ein Schild bezeichnet ihn als Park and Ride, und er bietet tatsächlich ganzen zwei Autos Platz. Natürlich nur, sofern sie nicht zu gross sind. Dass wir von hier nach Sörenberg gewandert sind, bringt den freundlichen Herrn nun doch ein wenig aus der Ruhe. Er schnappt erstaunt nach Luft aber findet es einfach nur grossartig, dass wir es geschafft haben, diese lange Strecke trocken zurückzulegen, noch vor der «grossen Wäsche dort hinten» . Tatsächlich! Wir sehen jetzt auch, wie sich über die Berge eine bedrohliche schwarze Wolkenfront nähert.
Rund acht Stunden zuvor sind wir in hier Hasle im luzernischen Entlebuch gestartet. Auf dem Weg hierher haben wir im Auto unzählige Regenzonen durchquert. Ob wir heute unsere siebte Etappe tatsächlich bis zum Ziel wandern können? In Hasle angekommen, beschliessen wir, einfach mal loszuziehen und so lange zu laufen, bis es das Wetter verunmöglicht. Über jedes noch so winzige Sonnenloch in der bewegten Wolkendecke freuen wir uns auf unserem Weg entlang der kleinen Emme. Schliesslich hat der frühmorgendliche Wetterbericht eigentlich nicht viel Gutes verheissen. Aber wir denken, dass es schön wäre, wenn wir heute einfach mal bis Flühli kämen. Sörenberg könnten wir ja auch an einem anderen Tag erreichen, falls uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen sollte.
Die kleine Emme wechselt jetzt ihren Namen. Waldemme nennt sie sich nun. Auch ihr Charakter wandelt sich jetzt. Das breite Flussbett wird durch immer höhere Felsen verengt und das zuvor friedlich gluckernde Flüsschen beginnt immer wieder zu gurgeln und zu tosen, weil es sich auf seinem Weg durch eine enge Schlucht zwängen muss. Unser Weg tanzt daneben hoch hinauf und tief hinunter. Das bringt uns manchmal ganz schön aus der Puste. Plötzlich ist dann da auch noch die winzige schwarze Ringelnatter, die unmittelbar vor unseren Füssen über den Weg schlängelt. Ein absoluter Glücksfall!
Die sonnigen
Abschnitte werden bald zahlreicher. Inzwischen sind wir an hübschen kleinen
Bauernhäusern mit bunten Gärten und an quirligen jungen Kätzchen und freundlichen Entlebucher Hofhunden
vorbeigekommen, haben mit einem sehr netten Bauern über den Lauf der kleinen
Emme gesprochen und gewinnen nun mehr und mehr an Höhe. Die Landschaft wird
immer alpiner. Die Berge links und rechts sind hoch und felsig. Ihr Anblick
lässt uns ganz euphorisch werden. Bald haben wir eine höhere Ebene des Tals
erreicht, der Fluss rauscht nun ganz weit unten. Wir staunen über die
Magerwiesen mit ihrer Blumenpracht; Margeriten, Flockenblumen, rosa Knöteriche, leuchtend violette Orchideen und noch mehr Farben überall. Es wird immer wärmer. Vom Himmel mit
seinen teils wirklich sehr düsteren Wolken strahlt eine heisse Mittagssonne.
Nach sechs Stunden wandern haben wir dann die Post von Sörenberg erreicht. Wir haben wirklich nicht damit gerechnet, dass wir heute diese fast 25 Kilometer lange Etappe tatsächlich bis zum Ende laufen würden. Wahrscheinlich hat sich das Wetter von seiner sonnigsten Seite gezeigt, weil es sich darüber ärgerte, dass Lukas heimlich seinen Knirps zuunterst in seinem Rucksack versteckt hatte...
28.6.2020
Das Donnergrollen frühmorgens...
...um halb sechs lässt
uns für einen Moment an unserem Vorhaben zweifeln. Für unsere achte Etappe sind
wir extra schon am Vorabend nach der Arbeit nach Sörenberg angereist. Schlaftrunken
versuchen wir uns nun damit abzufinden, dass wir vielleicht den heutigen Tag mit
ein paar Regenspaziergängen um Sörenberg verbringen werden, bis wir dann wohl völlig
durchnässt gegen Mittag mit dem Postauto wieder abreisen. Doch der freundliche
Hoteldirektor an der Rezeption schüttelt später entschieden den Kopf und meint, dass sich
der Regen bis zum Nachmittag Zeit lassen werde. So beschliessen wir die
Passüberquerung vom Kanton Luzern in den Kanton Obwalden zu riskieren. Zwar
fehlt heute das Zirpen der Grillen in den Weiden. Sie haben uns bisher auf
unserer Reise jeweils das Wetter zuverlässig vorausgesagt. Aber vielleicht ist ja
auch auf die Wetterfühligkeit eines erfahrenen
Hoteliers Verlass.
Tatsächlich; schon kurz nach Sörenberg blitzt die Sonne durch die Wolkendecke und die blauen Löcher am Himmel werden immer grösser. Es wird uns richtig warm beim Aufstieg. Es ist schön, über die grünen und blumenübersäten Alpweiden immer weiter nach oben zu steigen. Irgendwo hier haben sich vor ein paar hundert Jahren die Sennen aus Flühli und jene aus dem Kanton Obwalden um die saftigsten Weiden gestritten. Sie sind nicht sehr zimperlich miteinander umgegangen und haben tatsächlich so etwas wie eine kleine Schlacht geführt. Ein Flurname erinnert noch daran. Am Ende hatten dann die hiesigen Sennen gesiegt und die fremden Obwaldner mitsamt ihrem Vieh zurück über die Kantonsgrenze vertrieben.
Nach einer guten Stunde haben wir den Glaubenbielpass erreicht und zu unserem Erstaunen total problemlos 450 Höhenmeter überwunden. Irgendwann kippt uns der Weg auf die andere Seite des Bergs, wo auch die Grillen wieder zirpen. Eine Ziegenherde möchte gern mit uns nach Zürich kommen. Zum Glück können wir sie aber irgendwann zum Bleiben überreden. Die Aussicht auf den Sarnersee ist phänomenal, jedoch nur für kurze Zeit. Bald tauchen wir ein in dichten Wald, wo wir uns längere Zeit im Zickzack abwärts schlängeln. Gerade als es uns ein bisschen langweilig wird, entdecken wir eine Abzweigung. Auf dem Wegweiser steht Kaiserstuhl. Das liegt weiter südlich am Lungernsee und ist zeitlich gleich zu erreichen wie unser ursprüngliches Ziel Giswil am Sarnersee. Spontan ändern wir unsere Route, obwohl der Himmel nun doch schon etwas beunruhigend dunkel aussieht. Wir erreichen einen tosenden Bergbach, überqueren eine Brücke und finden uns auf arg von Steinschlägen zerbeulten, wackligen Metalltreppchen wieder, die seilgesichert steil über Felswände nach oben führen. Was für ein spektakulärer Weg! Ich freue mich, dass wir nun hier laufen, auch wenn wir uns jetzt nochmals 200 schweisstreibende Höhenmeter nach oben kämpfen müssen. Bald haben wir die Sakaramentskapelle erreicht: Eine zauberhafte, kleine Waldkapelle aus dem Jahr 1522. In ihrem Innern fliesst eine glasklare Quelle, die der Legende nach genau dort zum ersten Mal sprudelte, wo Diebe die zuvor in Lungern gestohlenen heiligen Hostien auf den Boden geworfen hatten. Deswegen hatte man genau hier diese Kapelle errichtet. Ein sehr verzauberter und spezieller Ort mitten im Wald!
Wir müssen bald weiter. Der Wind rauscht schon ziemlich in den Baumwipfeln. Er wird wohl einiges bringen, so schwarz wie die Wolken sind, die nun über dem Lungernsee über die Berggipfel quellen. Der See hat eine unglaubliche Farbe, so als ob es jemand ziemlich mit Photoshop übertrieben hätte. Wir erreichen Kaiserstuhl im Sauseschritt, machen es uns noch einige Minuten am Seeufer gemütlich und lassen das Surren der 23 Kilometer in unseren Füssen ein bisschen ausklingen. Lukas füttert einen hübschen zahmen Fisch immer wieder mit Brot. Als den dann aber der Fischer neben uns Minuten später an seiner Angel zappeln hat, hört für mich der Spass auf und wir machen uns auf den Weg zum Bahnhof. Keine Minute zu spät übrigens, denn kaum sind wir am Gleis, fängt es an zu regnen. Der Hoteldirektor hatte natürlich recht gehabt mit seiner Wettervorhersage.
4.7.2020
Die alte venezianische Liebesmünze...
...aus massivem Silber lag fast 600 Jahre genau an dieser Stelle auf dem alten Säumerweg über den Brünigpass. Die Route war damals eine wichtige Verbindung zwischen der Zentralschweiz und Venedig. Heute ist dieser alte Weg gespickt mit QR-Codes, die spannende historische Fakten enthalten. Liebesmünzen - so lernen wir jetzt - sind daran zu erkennen, dass man sie wellenförmig verbogen hat, damit sie von ihrem Besitzer nicht versehentlich ausgegeben werden. Man hat sie damals geliebten Menschen als Andenken und Glücksbringer auf lange Reisen mitgegeben. Weswegen diese Münze wohl seinem Besitzer hier aus der Tasche gefallen ist?
Eben waren wir noch gemütlich von Kaiserstuhl aus am Ufer des Lungernsees unterwegs. Die westliche Seeseite ist hier schon ganz gelb von der Morgensonne, der Osten liegt noch tiefdunkel im Schatten der Berge. Dann geht's aufwärts auf dem uralten gepflästerten Maultierweg, der stellenweise regelrecht in den Fels gefräst wurde. Am Vormittag liegt auch hier alles noch im Schatten. Eine glatte Farnart wuchert überall glänzend dunkelgrün und gibt dem Wald eine urtümlich-exotische Note. Feucht-triefendes Moos überzieht das Gestein. Der steinerne Untergrund ist mancherorts leicht algenbedeckt und glitschig. Das ist nicht immer so ungefährlich, weil die tiefsten Abgründe oft direkt am Weg klaffen. Man sollte eigentlich meinen, dass man hier in wohltuender Ruhe zum Pass hinaufsteigen kann. Aber es ist Samstag und wir befinden uns am Beginn der zweiten Viruswelle. Die Menschen haben Lust auf Ortsveränderung. Aber Reisen ausserhalb der Schweiz werden von vielen lieber auf später verschoben. Und so braust man am Wochenende in Endloskolonnen über die Schweizer Passstrassen. Obwohl wir die moderne Piste nur ab und zu kreuzen, werden wir den Verkehrslärm nie ganz los. Nur einmal, als wir kurz vor der Passhöhe abzweigen in ein grünes Seitental. Es besteht aus hügligen Weiden, über die einzelne Ställe und Hütten verteilt sind. Eine Bauernfamilie ist mit heuen beschäftigt. Ein kleiner See ist durch den Regen der vergangenen Tage ganz gross geworden und liegt da wie ein Zauberspiegel von Himmel und Welt aus uralten Zeiten. Auf dem Pass hat sie uns dann aber doch wieder; die heutige Zeit. «Old Cow Bells Antik» meldet ein Plakat am Strassenrand und bringt mich zum Schmunzeln. Das Brockenhaus im alten Brünig-Bahnhofsgebäude ist durchaus einen Besuch wert. Aber zum Glück entfällt die Einkaufsoption; unsere Rucksäcke sind beide schon gut gefüllt.
Und jetzt entscheidet sich unsere weitere Route! Halten wir uns westwärts in Richtung Brienz, werden wir über den Lötschenpass ins Wallis laufen. Nehmen wir den Weg Richtung Osten, dann wird uns der Grimselpass ins Wallis bringen. Wir haben uns bis jetzt ganz bewusst für keine Variante entschieden. Und trotzdem dauert es nur wenige Sekunden, bis wir einhellig den Weg nach Osten wählen. Wir verlassen das Brausen der Verkehrskolonnen. Der Weg führt nun durch einen lichten Wald. Süsser Walderdbeerduft schwebt in der Luft. Überall liegen gigantische Findlinge verstreut. Sie wurden vor Urzeiten von den sterbenden Gletschern hier zurückgelassen. Schon bald erreichen wir die Panoramastrecke: Eiger, Mönch und Jungfrau begleiten uns fortan den ganzen Rest des Wegs. Ich gerate in Euphorie und Fieber, wann immer ich zu diesen Gipfeln hinübersehe. Ich freue mich wirklich, dass es bald wieder soweit ist und wir uns mit Zelt und Rucksack ins Hochgebirge aufmachen werden.
Es geht jetzt über die vielen verschiedenen sonnigen Haslibergdörfer vorbei an einem idyllischen Badesee. Einem riesigen brummenden, surrenden Bienenschwarm können wir auf unserem Weg zum Glück gerade noch ausweichen. Den zuvor gefassten Plan, bei Meiringen die Aareschlucht zu durchqueren, verwerfen wir gleich wieder. Denn hier oben ist touristisch schon einiges los. Da gibt's wohl noch mehr Touristen unten in der Aareschlucht. Also bleiben wir vorerst oben und nehmen dann später den Waldweg abwärts nach Hasliberg-Reuti. Jemand hat überall riesige Kugelbahnen aufgestellt. Das sorgt für scharenweise glückliche Kinder und Eltern. Auch wir hätten eigentlich die grösste Lust, dem Verlauf der vielen Kugeln etwas länger zuzusehen. Aber es ist schon einiges später geworden als geplant. So sausen wir mit Siebenmeilenschritten abwärts. Es geht immer wieder vorbei an einsam gelegenen alten Gehöften mit bunten Bauerngärten. Und irgendwann erreichen wir Innertkirchen an der wild strömenden türkisfarbenen Aare. Es kommt uns mittlerweile überhaupt nicht mehr merkwürdig vor, dass am Bahnhof gleich nach unserer Ankunft der Zug einfährt: Bisher war das ja jedesmal so. Nach 7 Stunden und 26 Kilometern mit diversen Auf- und Abstiegen sitzen wir jetzt gerne ein wenig.
17.7.2020
Die Zeit ist reif...
...dass wir die restlichen 120 Kilometer unter die Füsse nehmen. Ich freue mich darauf, tagelang einfach zu laufen, die Gedanken konzentriert auf den nächsten Schritt, den Blick gerichtet auf den nächsten Horizont. Ich möchte endlich nur einfach gehen und mich einzig mit dem unmittelbar Wichtigen beschäftigen: Wann und wo werden wir essen, trinken, rasten und schlafen. Meine Sinne sind damit ausgefüllt, was es genau in diesem Moment zu riechen, hören, sehen und fühlen gibt. Endlich wieder genügend Zeit haben für Gespräche über Gott, die Welt und das Universum. Am Morgen zusammen erwachen, dem Zwitschern der ersten Vögel lauschen. Zitternd vor Kälte in der Morgendämmerung vor dem Zelt ganz nah zusammenrücken, die Wärme des andern und zugleich das taufeuchte Gras durch die Socken spüren. Klitschnass durch den Regen stapfen oder in der gleissenden Sonne schwitzen, den eigenen Puls in den Ohren... und sonst nichts. Am liebsten würde ich unser Ziel um 300 Kilometer weiter nach vorn verschieben oder gleich hundert Paar Schuhe durchlaufen bis ans Ende der Welt!
Ja, wirklich: Es ist Zeit, dass wir uns auf den Weg machen!

19.7.2020
Das wild pochende Herz...
...des winzigen, erschöpften Vogels aus meinem nächtlichen Traum spüre ich heute noch den ganzen Tag ganz fein an meinem Hals. Weil ich weiss, dass Träume jeweils dem Träumer etwas erzählen wollen, beschliesse ich, dass mein Traumvögelchen das Symbol für meine Seele ist. Ich hatte es in meinem Traum gerettet, wieder gesund gemacht und ihm in den Bergen an einem schönen Ort die Freiheit geschenkt. Und genau das tue ich jetzt selber. Mit jedem Schritt lasse ich die kleingeistigen Ignoranten der letzten Wochen hinter mir und geniesse meine soeben gewonnene Freiheit in den Bergen. Der Weg der von Innertkirchen hinauf führt ist steil. Wir haben uns spontan für den alten Grimselweg entschieden und bereuen es bald ein kleines bisschen, denn der Pfad Richtung Unterstock führt wirklich sehr steil aufwärts. Wir schlingern durch sumpfiges, rutschiges Gelände, halsbrecherisch über glitschiges Wurzelwerk und über kniehohe Stufen. Das ist mit unseren 15-Kilo-Rucksäcken ziemlich schweisstreibend. Der Verkehr auf der Passtrasse grenzt schon zu dieser frühen Stunde an den absoluten Wahnsinn. Hunderte verrückter Kamikazefahrer jagen mit ohrenbetäubendem Geknatter hintereinander her. Dieser Lärm macht schon ein wenig nervös, obwohl die Strasse in einiger Distanz zu uns liegt. Aber als wir dann endlich oben angekommen sind, werden wir mit einer unglaublichen Bergkulisse belohnt, davor eine Siedlung uralter Holzchalets inmitten duftender Heuwiesen. Der ältere Bauer, der sich am Wegrand liebevoll um seine majestätischen schottischen Hochlandrinder kümmert, nimmt sich Zeit für einen kleinen Schwatz. Sein Lächeln ist so erfrischend, wie das eines kleinen Jungen und er informiert uns gerne über den Verlauf alten Säumerwegs. Weiter geht's, die Rucksäcke fühlen sich von Minute zu Minute schwerer an, aber wir sind tapfer. Ausserdem - denke ich - wenn ich die Wahl habe, dann kämpfe ich viel lieber hier am Berg gegen mich selbst als gegen die Intriganten der letzten Wochen. Wir nehmen's gemütlich und erreichen Guttannen gegen den frühen Nachmittag. Wir meinen, dass wir nun den grössten Teil der Strecke bis zu unserem Ziel Handeck zurückgelegt haben. Aber leider haben wir erst gut die Hälfte hinter uns. Zum Glück verläuft der Weg durch eine faszinierende Landschaft. Das Tal mit seinen steilen Felsen ist manchmal eng, manchmal weitet es sich wieder und macht den Wiesen Platz, wo die Bauern dieses sonnige Wetter zum Heuen nutzen. Die Aare wird immer jünger hier oben und schlängelt sich gletscherblau. Unsere Rucksäcke fühlen sich mittlerweile an, als ob sie 100 Kilo Steine enthielten. Aber wir halten durch, selbst als wir mehrmals falsch gehen und uns plötzlich in schwindelerregender Höhe weit über der Passstrasse wieder finden. Das schönste Stück kommt zwischen dem grossen Kraftwerk und Handegg. Hier kann man sich die alten Säumer aus früheren Zeiten sehr gut vorstellen. Es ist noch der Säumerweg mit seinen originalen soliden Wegverbauungen. Wir nehmen die letzte Steigung durch einen fast magisch von der Sonne durchfluteten Wald Mit letzter Kraft erreichen wir um 18 Uhr nach 7 Stunden Fussmarsch das Hotel Handegg auf 1400 m.ü.M.. Weil es keine Zimmer mehr frei hat, bauen wir unser Zelt ganz versteckt einer Anhöhe auf. Im Restaurant hat es erst keinen Tisch für uns frei. Doch ein paar Tees später löst sich auch dieses Problem durch eine empathische Kellnerin doch noch in zwei Portionen Spaghetti und gemischten Salat. 24 Kilometer waren's heute, fast 1000 Höhenmeter waren darauf verteilt. Wir sind müde aber glücklich. Und ich habe mich aus eigener Kraft um Welten von meinen Ärgernissen entfernt.

20.7.2020
Die Druckstellen der Rucksäcke...
...an den Schultern und den Hüften sind wirklich nicht ohne! Auch die Rückenschmerzen hätte ich lieber nicht. Aber oberste Priorität hat unser Projekt, zu Fuss von zu Hause ins Wallis zu laufen, Schmerzen hin oder her. Das Positive überwiegt auf dieser Reise: Zum Beispiel das unbeschreibliche Glücksgefühl, an Ende eines Tages voller Schweiss und Strapazen das nächste Etappenziel erreicht zu haben. Auch das Schlafen im Zelt irgendwo versteckt auf einer Anhöhe in der absoluten Stille der Berge. Und natürlich die atemberaubenden landschaftlichen Schönheiten auf Schritt und Tritt, vor allem seit wir nun in gebirgigen Höhen unterwegs sind. Das Übernachten im Zelt ist zwar nicht wirklich erholsam, vor allem weil wir uns für ein winziges, dafür sehr leichtes Modell entschieden haben. Der beengte Platz ist gerade gut für zwei Verliebte. Aber das sind wir ja. Wir haben ultra leichte Schlafmatten mit dabei. Die sind bequem und unsere Schlafsäcke sind warm genug. Trotzdem erwachen wir alle zehn Minuten und sind froh, als heute endlich der Tag dämmert und wir aufstehen können. Draussen ist es kalt. Alles trieft vor Taunässe. Einen Kocher haben wir diesmal aus Gewichtsgründen nicht dabei, Frühstück auch nicht. Also bleiben wir nüchtern und es gibt einen Schnellstart heute früh. Schon in der Morgendämmerung machen wir uns auf in Richtung Grimselpass. Erst die allerhöchsten Gipfel sind ins Licht der aufgehenden Sonne getaucht, wir bewegen uns noch viel weiter unten in grauer Düsternis aufwärts. Wir haben heute nicht so viele Kilometer aber dafür einen ziemlich kräftezehrenden Aufstieg von rund 800 Höhenmetern vor uns. Der Weg ist spektakulär. Seine uralten Verbauungen sind auch heute noch so präzis wie anno dazumals, nur wenig davon ist im Lauf der Zeit verrutscht. Wir wandern oft quer über riesige vom Gletscher flachgeschliffene Felsplatten, in die vor vielen hundert Jahren stellenweise sogar Stufen gemeisselt wurden. So erreichen wir dann kurz vor dem Räterichsbodensee auf 1767 m.ü.M. die erste Morgensonne. Der Stausee ist riesig. Der Weg führt über Felsplatten an seinem Westufer entlang. Zum Teil braucht es eine gute Trittsicherheit, denn würde man erst einmal ins Rutschen geraten, gäbe es kein Halten mehr vor dem Eiswasser weiter unten. Hundert Höhenmeter weiter oben liegt der noch grössere Grimselsee. Sein 90-jähriger Staudamm wird gerade saniert. Leider ist der alte Säumerweg seinerzeit beim Fluten des Tals tief im Grimselsee versunken. Deswegen sind wir nun einen Kilometer lang auf der Grimsel-Passtrasse unterwegs. Wir werden ständig von selbstmörderischen Motorradfahrern und getunten Rennboliden um Haaresbreite nicht über den Haufen gerast. Das kostet Nerven. Dankbar nehmen wir wieder in den alten Saumweg, der dann endlich in einer Spitzkehre von der Strasse abzweigt. Über Steinstufen geht es steil im Zickzack die letzten 200 Höhenmeter nach oben zur Passhöhe. Wir pausieren immer öfter, weil die Rucksäcke langsam immer schwerer werden. Dabei können wir die Aussicht auf die immer kleiner werdenden Seen geniessen. Und dann, fünfeinhalb Stunden nach unserem Aufbruch, haben wir den Grimselpass und somit den Kanton Wallis erreicht! Im Hotel Grimselpass ist unser Zimmer mit einer phänomenalen Seesicht schon bereit. Nach einer wohltuenden Dusche sinke ich ins Bett und erwache erst einige Stunden später wieder. Es braucht eine ganze Weile, bis ich mich danach wieder bewegen kann, weil mir jeder Muskel und jedes Gelenk wehtut. Seit gestern Abend habe ich nichts mehr gegessen und nur wenig getrunken. Das hat wahrscheinlich nicht unbedingt zum allgemeinen Wohlbefinden beigetragen. Also nichts wie los und auf einer Terrasse einen Salatteller bestellen, damit sich die Kräfte wieder regenerieren und sich der Magen auf das Abendessen einstimmen kann.
21.7.2020
Die Wetterküche kocht uns heute...
...ganz verschiedene Süppchen. Morgens früh schwappt es tiefschwarz aus dem Berner Oberland zu uns auf den Grimselpass herauf. Aber wir lassen uns nicht beirren und nehmen den Weg ins Goms nach Münster trotzdem unter die Füsse. Vorbei geht's am Totensee, einen letzten Blick werfen wir noch zurück zur Passhöhe, wo diese schwarze Wettersuppe kocht. Bald scheint es aber auch bei uns ernst zu werden. Erste Regenspritzer erreichen uns. Wir halten es für klüger, nun unser Regenzeug auszupacken, denn eine unheilvoll dunkle Wolkenwand wabert gerade über die Berge zu uns hinab. Kaum haben wir uns wasserdicht verpackt, strahlt schon wieder die Sonne vom Himmel. Unsere Reise geht also weiter im Sommerdress. Der Zustand des alten Säumerwegs ist hier deutlich schlechter als nördlich des Passes, aber dennoch gibt es auch hier noch sehr ordentlich gepflästerte Wegteile. Wir steigen ab durch südlich geprägte Vegetation. Die Früchte des Bergholunders leuchten überall knallrot und es blüht bunt auf allen Wiesen. Wir zweigen dann irgendwann ab auf den Gommer Höhenweg, der uns immer wieder auf und ab durch duftende Lärchenwälder schüttelt. Die uralten Bäume strahlen soviel Ruhe und Frieden aus, dass man sich einfach wohl fühlen muss, wenn man so winzigklein zwischen ihnen hindurchgeht.
Als die Wetterküche gerade von Neuem ein rabenschwarzes Menü über unseren Köpfen kocht und ein unheimlicher Sturm durch die Lärchen braust, da ist völlig klar, dass wir diesmal nicht mehr trocken davonkommen werden. Ich denke mir zum Spass, dass ich vielleicht ein wenig öfter in die Kirche ginge, wenn uns der Himmel jetzt ganz schnell zu einem schützenden Dach führen würde. Ziemlich unwahrscheinlich in dieser einsamen Gegend, deswegen fürchte ich mich ja auch nicht vor Spässen mit dem Himmel. Als wir zehn Schritte weiter vorn um die Ecke biegen, da finden wir uns schon inmitten von fünf alten ungenutzten Ställen. Dass die eine Tür unverschlossen ist, erstaunt mich nicht wirklich. Eins zu null für den Himmel mal wieder und... okay, versprochen! Werde ab sofort häufiger in die Kirche gehen. Wir warten das Wetter ab. Die Lärchen rauschen im Sturm, der Regen gibt sein Bestes und wir bleiben schön trocken dabei. Bald ist sie wieder da, die Sonne, wie immer im Wallis.
Man könnte tagelang so gehen über die Alpwiesen, durch die Wälder und quer über die eisklaren Bergbäche. Manchmal ist der rutschige Weg mit schweren Eisenketten gesichert, an denen man sich schlecht festhalten kann, weil sie zu tief hängen und weil es ganz schön viel Kraft benötigt, um sie wenigstens auf Kniehöhe anzuheben. Es geht oft steil nach oben, obwohl wir eigentlich an Höhe verlieren sollten, aber der Weg stimmt schon: Es ist halt einfach das Gelände, das den Wegverlauf bestimmt. Sonne wechselt sich mit Wolken, ein Schmetterling fährt für eine Stunde als blinder Passagier mit auf meiner Hand, die Buchfinken rufen von den Bäumen und von Zeit zu Zeit kann man die Eichhörnchen die Bäume rauf- und runterkrabbeln hören. Irgendwann macht Lukas eines seiner Minifeuerchen für seine Wurst, die er schon seit Tagen im Gepäck mit sich herumträgt. Erstaunlicherweise ist sie nicht verdorben und duftet gebraten, wie sie eben duften muss. Bald haben wir die Abzweigung nach Münster erreicht. Das Dorf liegt senkrecht unter uns und wir fühlen uns wie im Landeanflug, denn der alte gepflästerte Weg führt schnurgerade durch die kurz geschorene Wiese hinunter bis genau vor unser historisches Hotel Croix d'Or et Poste. Sechseinhalb Stunden und zwanzig Kilometer sind wir heute unterwegs gewesen. Eine Dusche haben wir klar verdient und auch ein Abendessen; Walliser Cholera natürlich für mich und - anders ist es nicht möglich - für Lukas endlich mal wieder Schnitzel mit Pommes Frites.
22.7.2020
"Aber sicher, Sie können Ihr Zelt...
...natürlich problemlos in unserem Garten aufbauen." Frau Ruppen betreibt in Ernen ein kleines Bed&Breakfast. Auf der Suche nach einer Unterkunft habe ich schon mit der halben Dorfbevölkerung telefoniert, aber bis jetzt ist nichts zu machen; alle Zimmer sind ausgebucht. Wenn ich jeweils von unserem Projekt "Zu Fuss von zu Hause ins Wallis" erzähle, ist jeder sofort sehr hilfsbereit und gibt mir die Nummer seines Nachbarn, der ja vielleicht trotzdem irgendwo noch ein freies Bett haben könnte. So lande ich am Ende bei Frau Ruppen. Sie und ihr Mann haben früher die Bäckerei des Dorfs betrieben, die sie dann eben später zu einem B&B umfunktionierten. Frau Ruppen findet unser Projekt interessant und meine Idee vom Zelten in ihrem Garten amüsiert sie zusehends mehr. So werden wir am Ende handelseinig; sie bietet uns einen Platz im Garten, Benutzung der Haustoilette inklusive und wir bezahlen dafür irgend einen Preis, den sie sich bis morgen noch überlegen soll. Lukas findet ein bischen verrückt, dass ich allen so einfach über unser Projekt erzählt habe. Aber immerhin konnte ich so die Leute dazu motivieren, uns bei der Suche nach einer Schlafmöglichkeit zu helfen. Wir sind gespannt, was uns morgen beim Ehepaar Ruppen erwartet und freuen uns auf die Weiterreise nach Ernen.
Die Nacht regnet es durch und als wir nach dem Frühstück vor dem Haus stehen, verheisst uns der Himmel viel Abwechslung für heute. In Marschrichtung ist es rabenschwarz und ein Regenvorhang fliesst auf uns zu. Über unseren Köpfen herrscht eitel Sonnenschein, die Berge links und rechts des Tals haben gerade keine Lust, hinter dem Nebel hervorzugucken und es grollt von überallher bedrohlich nach unten. Eigentlich wollten wir hoch über dem Goms den Waldweg nach Ernen nehmen. Aber auf die Gewitter dort oben haben wir keine Lust. Also spontane Planänderung beim Wegweiser. Wir werden über den Rottenweg nach Ernen laufen. (Rotten, so heisst die Rhone, solange sie noch jung und wild ist.) Ich habe mir das langweiliger vorgestellt, als es dann zum Glück wird. Es wird nämlich eine locker entspannte Wohlfühlvariante heute und wunderschön noch dazu. Der Weg tingelt ein bisschen auf und ein bisschen ab durch Wälder und über Weiden mit von der Sonne schwarzgebrannten Walliser Stadeln. Mal laufen wir weit über dem gletscherblauen Rotten, mal direkt an seinem Ufer. Es gibt hier mehr Spaziergänger und vor allem noch viel mehr Velotouristen als in den Bergen, weil die Strecke reizvoll und extrem abwechslungsreich ist und vor allem weil die ganze Schweiz in der Schweiz Ferien macht. Das Wetter möchte uns all seine verschiedenen Seiten zeigen; Wir werden besonnt, bewindet, besprüht und begossen. Die Gewitter bleiben oben in den Hängen, man kann sie immer wieder hören, aber sie lassen uns in Ruhe.
In Ernens Nachbardorf Mülibach tue ich, was ich versprochen habe und was ich ohnehin tun würde: Ich besuche die Kapelle auf dem Hügel und verspreche hier dem Himmel, dass noch weitere Besuche in weiteren Kapellen folgen werden, eigentlich auch ganz wie immer. Bald nähern wir uns Ernen und Google Maps hält uns ein bisschen zum Narren, bis wir uns einfach auf unsere eigenen Sinne verlassen. Dann finden wir die ehemalige Bäckerei nämlich auf Anhieb und Frau und Herr Ruppen nehmen uns sehr freundlich in Empfang. Wir halten ein Schwätzchen. Und dann noch eins. Das Zelt ist schnell aufgebaut, das Wetter macht munter weiter mit seiner bunten Angebotspalette, aber man kann dabei trotzdem in Ruppens Gärtchen sitzenbleiben, richtig nass wird man nämlich nicht.
23.7.2020
Ein neuer Bäcker wäre schön...
...der gleich auch noch die ganze Bäckerei übernähme! Vier Jahre ist Herr Ruppen nun schon pensioniert. Ein Nachfolger hat sich leider nie gefunden und deswegen bleibt die Bäckerei mit der kleinen Cafeteria bis auf weiteres geschlossen. Frau Ruppen führt uns stolz durch den Betrieb. Alles ist da: Vom Teigrührwerk zum Brotbackofen über die Kasse an der Ladentheke. Die Cafeteria mit ihren drei Tischen ganz in Holz gehalten, davor eine Terrasse mit grandiosem Panorama, Gipfelsicht inklusive. Man kann das Finsteraarhorn mit seiner Schneespitze sehen, und ginge man von hier aus einfach geradeaus, dann würde man direkt zu Eiger, Mönch und Jungfrau gelangen. Ja, einen Nachfolger zu finden ist bisher leider unmöglich gewesen. Den Bäckerberuf möchte heute niemand mehr lernen und wenn, dann höchstens in der Stadt in einer Grossbäckerei, aber später sicher nicht hier oben in den Bergen arbeiten. Frau Ruppen ist ein wenig betrübt. Drei Enkel hat sie inzwischen, und die Grosseltern haben ihre Bäckerei nun eben als Kinderspielparadies eingerichtet. Das heitert sie nun auch wieder ein wenig auf. Denn welche Kinder können denn sonst noch in einem echten Laden verkaufen spielen und dergleichen tun, als würden sie richtiges Brot herstellen? Ja, wir verstehen Frau Ruppens Betrübnis. Es ist wirklich schade. Alles wäre vorhanden, nur der Bäcker fehlt. Wäre er da, dann könnte er sofort loslegen. Und wieso sollte denn eigentlich keiner in dieses wunderschöne Dorf hinaufziehen wollen? Bei unserem Rundgang sind wir begeistert. So viele historische Bauten überall, jede Gasse so liebevoll gepflegt. Man hat den Eindruck, sich plötzlich in längst vergangenen Zeiten zu bewegen. Selbst die neueren Häuser wurden sorgfältig an die Umgebung angepasst; sie sind zwar modern, aber passen perfekt zum alten Dorfkern. Der Tourismus habe sie jeweils sehr gut über die Runden gebracht, zwei Monate im Jahr habe man sogar jeweils Ferien machen können, immer nach der Saison im Frühling und im Herbst. Ich denke an meine Deutschlerner. Es gäbe einige Bäcker darunter, die wohl mit Freuden alles übernähmen und weiterführten. Aber natürlich könnten sie das finanziell nicht stemmen.
23.7.2020
Wer von Ernen nach Brig...
...laufen möchte, der durchquert irgendwann eine wild-romantische Schlucht namens Zauberwald und landet dann nach einem steilen Aufstieg aus moosgrüner Feuchtigkeit in einem kleinen, einsamen Weiler namens Hockmattä, an dessen Eingang eine uralte winzige Kapelle steht. Es muss in jenem Ort tatsächlich eine Hexe oder vielleicht ein ungehaltener Geist aus diesem Zauberwald wohnen. Wie sonst wäre es zu erklären, dass diese Frau mit der steingrauen Löwenmähne aus dem Nichts kommend grusslos und einige Sekunden später Verwünschungen brummend an Lukas vorbeiwallt? Ich beobachte diese leicht befremdliche Szene aus der Ferne. Als ich bei Lukas neben der Kapelle eintreffe, ist niemand mehr zu sehen. "Vielleicht", sagt Lukas, "ist die Frau auch einfach erschrocken, weil sie in dieser Einsamkeit nicht mit uns gerechnet hat." Einige Minuten lang machen wir Pause. Als wir dann weitergehen, sehen wir sie plötzlich mit bitterböser Miene im tiefen Schatten eines Gartens sitzen. Unseren Morgengruss erwidert sie mit einem merkwürdig flackernden Blick, so dass es mir eiskalt den Rücken hinabläuft. Wenigstens bleibt sie, wo sie ist und wir sind froh, dass wir mit jedem Schritt mehr Distanz zu ihr bekommen.
Die Wanderung ist schön, die Gegend ist nicht sehr dicht besiedelt, überall weiden Schafe, vor Wölfen beschützt von Herdenschutzhunden und Eseln. Wir queren jene Stelle, wo vor über hundert Jahren eine gigantische Schneelawine das gesamte Dorf Mühlebach ausgelöscht hat. Eine traurige Geschichte, die uns für einige Minuten zum Innehalten bewegt. Es geht in immer grösserer Sommerwärme über Grengiols und Bister nach Mörel, wo es uns dann wirklich zum Schwitzen bringt, das typische Walliser Klima. Zum Glück finden wir unter der Bogenlaube der Kirche in Mörel einen kühlen, schattigen Platz für unsere Mittagspause. Wir wollen hier noch ein wenig Kraft schöpfen für das letzte energiezehrende Stück bis Brig.
Dann folgen wir mehrere Kilometer dem stillgelegten alten Hennebique-Kanal, der Mörel mit dem Dorf Bitsch verbindet. Man geht oben auf seinem Betondach hoch über der Talstrasse, es gibt beidseits kein Geländer. Für Lukas, der nicht schwindelfrei ist, bedeutet das schon eine Herausforderung. Aber er meistert sie tadellos. Ab Bitsch - ja, das Dorf heisst tatsächlich so! - wird's wirklich warm. Ab hier geht's alles dem Rotten entlang, der sich an dieser Stelle wirklich total ungestüm und überbordend vor Kraft aufführt. Man möchte sich nicht vorstellen, was passiert, wenn jemand da in seine grünblaugrauen Strudel fiele. Anfangs geht es durch eine macchiaähnliche Vegetation, ein bisschen langweilig ist das schon. Aber bald sind wir dann eingeklemmt zwischen Autobahn, Fluss und Zuggleis und die Sonne brennt gnadenlos auf unsere Köpfe. Es geht endlos und kilometerlang geradeaus. Jetzt ist es wirklich unglaublich langweilig. Unsere Rucksäcke drücken zum Glück nicht mehr so schlimm. Die Träger haben nämlich unser Fleisch an Schultern und Hüften über einige Tage regelrecht weichgegart. Aber mein rechter Wadenmuskel ist mal wieder stark verkrampft und das erleichtert das Vorwärtskommen leider auch nicht.
Alles hat ein Ende, so auch dies. Wir erreichen Brigs Ortsschild acht Stunden nach unserem Aufbruch in Ernen. Unser Hotel befindet sich gleich beim Bahnhof. Frau Meier hat uns bereits erwartet. Sie sagt, dass sie schon seit gestern gespannt darauf sei, wer denn diese beiden verrückten Weitwanderer aus Zürich sind. Ein bisschen Smalltalk und dann gehts sofort weiter mit Wäsche waschen, Zelt von den nächtlichen Starkregengüssen trocknen und vor allem den klebrigen Schweiss von zwei Tagen endlich, endlich abduschen!
23.7.2020
So, so... ein Capuccino..."
Unsere Bestellung hat dem sehr, sehr alten Wirt soeben ein amüsiertes Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Nach zwei Stunden Fussmarsch haben wir soeben das Bergdorf Grengiols erreicht, das man übrigens als "Grängels" ausspricht. Über die gepflästerte Hauptgasse sind wir ausserordentlich steil durchs hübsche Dorf abgestiegen und finden, dass die Zeit für unsere Kaffeepause nun endlich gekommen ist. Das Restaurant Edelweiss scheint geöffnet zu haben und schon stehen wir drin. Es gibt nur drei winzige Fensterchen in der Gaststube, deshalb ist das Licht ziemlich schummrig. Der Wirt muss die Achtzig schon weit überschritten haben, aber er scheint seine Arbeit noch immer mit Freude und Leidenschaft zu machen. Nur eben mit dem Capuccino hat er etwas Mühe. Doch zum Glück steht ihm seine ebenso betagte Frau zur Seite, und zum Schluss haben wir zwei herrliche Capuccini vor uns stehen. Woher wir denn kämen, möchten die beiden wissen. Lukas grinst und stösst nur das Wort "Zürich." hervor. "Ja, ja, das hören wir schon am Dialekt. Aber wo seid ihr gerade hergewandert?" - "Zürich.", wiederholt Lukas noch breiter grinsend. Wir spielen das Spiel noch ein bisschen länger, bis die beiden alten Leutchen lachen müssen. Sie finden es dann toll, dass man so weit laufen mag. Aber ihnen wäre es doch etwas zu streng. Ein ums andere Mal möchten sie unsere Route hören, nur damit sie kichernd ihre Köpfe schütteln können. Der Wirt versucht probeweise meinen Rucksack hochzuheben, doch er schafft es nicht. "Ach, der ist aber leicht!", ruft er und seine Frau kichert wieder. Sie ist ein bisschen besorgt, ob wir den Rest der Strecke auch wirklich meistern werden. Dabei sind wir doch soeben mit ihrem wunderbaren Capuccino gestärkt worden. Das sollte eigentlich wirken wie Doping. Das Wirtepaar guckt zwar leicht zweifelnd, aber es wünscht uns sehr herzlich gutes Weiterlaufen.
24.7.2020
"Einer unserer Gäste deponiert...
...sogar ständig seinen Koffer hier in der Ecke der Hotelbar, weil er alle zwei Wochen erneut bei uns logiert. Da können Sie doch problemlos ihre Campingausrüstung dazustellen!" Frau Meier ist total unkompliziert. Eigentlich hätte sie uns gestern gern auch die Wäsche gemacht, aber wir sind einander ja leider nicht mehr über den Weg gelaufen, deswegen hat sie uns das auch nicht mehr anbieten können. Die Frauen Meier leiten das Hotel Europe beim Bahnhof Brig gleich im Doppelpack. Sie sind zwei sehr sympathische Endfünfziger und unglaublich freundlich. Beide ähneln einander fast wie ein Ei dem anderen, doch jede spricht einen völlig unterschiedlichen Dialekt. Nachdem ich am Morgen unsere nächste Hotelnacht in Ausserberg problemlos buchen konnte, benötigen wir unsere Zeltausrüstung für den Rest unserer Reise nicht mehr, da wir unser Ziel Erschmatt ja bereits übermorgen erreicht haben werden. Trotz Lukas' Skepsis beschliesse ich, Frau Meier zu fragen, ob wir unsere Ausrüstung für einige Tage im Hotel deponieren dürfen. Und natürlich ist das kein Problem. Sie freut sich, dass sie unser Projekt mit dieser Geste unterstützen kann und wünscht uns einen spannenden und sicheren Weitermarsch.
Mit einem guten Drittel weniger an Gewicht läuft sich's prima. Wir könnten die vielen Steinstufen des weiteren Wegs eigentlich auch hüpfen, so leicht fühlen wir uns auf einmal. Unterwegs erklärt uns ein freundlicher Briger, was es mit der alten hebbaren Eisenbahnbrücke auf sich hat. Lächlend erzählt er auch, dass das ehemalige Gleis der Bahn heute rot geteert sozusagen als "Rote Meile" für Fussgänger von Naters nach Bitsch führt. Das klingt lustig und wir merken uns diese Verbindungsalternative für ein anderes Mal.
Von Brig/Naters gehts ordentlich steil hinauf zur Lötschberg Südrampe. Der Weg entstand grösstenteils im Zusammenhang mit dem Bau der Lötschbergbahn. Wir sind froh, verhält sich das Wetter heute ein wenig grau mit einigen Regenspritzern, denn wir haben die Strecke bei Sonnenschein nur zu gut als mörderisch heiss in Erinnerung. Weil sie aber wirklich einzigartig spektakulär ist, möchten wir viel lieber diesen Umweg über Ausserberg laufen, als uns im Tal unten neben der Rhone zu langweilen. Die nächsten sechs Stunden verbringen wir also über wahnwitzigen Abgründen auf Felsentreppen, in alten Bahntunneln, auf schmalen Brücken in schwindelerregenden Höhen und in den duftenden Felsensteppen. Wir folgen verschiedenen uralten Bewässerungskanälen, die auf Walliserdeutsch "Bisse" heissen und in denen das eisigkalte Wasser immer schön paralell zu den Wegen fliesst. Wir bewegen uns im grossartigen Bahn-Schutzwald, wo man beim Bahnbau vor hundert Jahren in eine ursprünglich baumlose Zone zehn Millionen Bäume gepflanzt hat, um das Trasse der Lötschbergbahn vor Lawinen zu schützen. Da das Klima an diesen südlichen Hängen eigentlich zu heiss für solche Wälder ist, besteht über viele Kilometer ein ausgeklügeltes Rohrnetz, damit der Wald genügend Feuchtigkeit erhält. Wir steigen nach oben und nach unten, bis ganz ans Ende eines jedes Tals, aber das alles nicht in glühender Sommerhitze sondern schön angenehm kühl und luftig. Als sich dann doch sehr stürmisch eine rabenschwarze Wolkenwand nähert und die ersten wirklich grossen Regentropfen vor unsere Füsse klatschen, da stehen wir bereits vor unserer nächsten Unterkunft: Dem Hotel Bahnhof in Ausserberg. Nochmals Schwein gehabt! Wir bleiben trocken, als der Wolkenbruch niedergeht. Eine punktgenaue Landung wieder mal!
25.7.2020
Die hübsche kleine Weinbergschnecke...
...kämpft gerade um ihr Leben, als wir sie aus der gnadenlosen Sonnenhitze heben. Ihr Rücken ist schon bräunlich angetrocknet und sie hat kaum mehr genügend Kraft gehabt, ihr riesiges Haus über den glühenden Weg in den rettenden Schatten zu schleppen. Jetzt befeuchten wir sie mit Wasser aus unserer Flasche und beobachten, wie sie auf meiner Hand sitzt und genüsslich trinkt. Wir können uns gut vorstellen, wie es sich für sie angefühlt haben muss, immer mehr auszutrocknen. Weit und breit ist kein kühler Schatten in Sicht, also trage ich ich sie ein Stück mit. Sie scheint sich über unsere gelegentlichen Wassergüsse zu freuen, denn sie räkelt sich wohlig auf meiner Hand und trinkt, und trinkt, und trinkt. Irgendwo unter einer schattigen Hecke richten wir unserer Schnecke ein Plätzchen ein, giessen genügend Wasservorrat dazu und schauen noch einen Moment zu, wie sie sich ganz langsam unter einen Stein zurückzieht.
Wir sind schon seit vier Stunden unterwegs, es ist heiss heute, die Mittagssonne gibt ihr Bestes. Die malerischsten und wildesten Streckenabschnitte haben wir schon hinter uns gelassen: Wir sind durch dunkle, kühle Tunnels gelaufen, haben auf filigranen Metalltreppen und Hängebrücken Schluchten durchquert, haben uns über riesige Eisenbahnviadukte gewagt und mussten unendlich lange Wege über steile Treppenstufen meistern. Das Gesicht haben wir zwischendurch immer mal wieder von Neuem im eisigen Wasser der Bissen am Wegrand gekühlt. Sie fliessen in Kanälen aus Naturstein und manchmal auch in Känneln aus ganzen Baumstämmen. Oftmals musste man sie an den gefährlichsten Felswänden befestigen, weil es keine andere Möglichkeit gab, das Wasser aus dem Fluss ganz hinten im Tal auf die Wiesen und Felder weiter vorn zu transportieren. An einer Stelle erzählt ein Schild, dass im Lauf der Zeit bei den Unterhaltsarbeiten hier mehr als hundert Männer tödlich abgestürzt sind.
Mal gehen wir durch schattigen Wald, mal durch glühende Felsensteppe, aber zum Glück weht ab und zu eine kühlende Brise. Überall wachsen Berberitzen, blüht der Hauswurz, trillert die Haubenmeise und flitzen die Smaragdeidechsen quer über den Weg. Riesenheuschrecken schwirren mit knatternden Geräuschen auf, sobald man sie erschreckt. Nur die Schlangen haben heute Pause; wahrscheinlich ist es einfach zu heiss. Kurz vor Mittag erreichen wir die Rarnerkumme, wo ein kleines Café mitten in einem riesigen Garten steht. Die Tische mit Talsicht sind toll und der Capuccino an diesem Ort ein absolutes Muss! Viel Zeit zum Sitzen bleibt nicht, denn der Weg ist noch weit, aber so unglaublich kurzweilig, dass man nicht stehenbleiben möchte, weil man immer nochmals hinter die nächste Wegbiegung gucken will.
Der nächste Ort - Hohtenn - will einfach nicht näher kommen, denn unser Weg schlängelt sich in die allerhinterste Ecke jedes Tals und dann wieder hinaus. Irgendwann kommen wir doch an, aber nun müssen wir ganz nach unten ins Rhonetal absteigen. Das heisst, sechshundert Höhenmeter verlieren, die wir bei Gampel wieder nach oben müssen. Ein Einkauf im Tal ist auch noch nötig, weil morgen Sonntag ist. Jetzt kennen wir den Weg nach Erschmatt hinauf gut, aber das hilft wenig, weil er dadurch auch nicht kürzer wird. Wir kämpfen und kämpfen. Die Sonne brennt, es gibt wenig Schatten, der Schweiss rinnt ständig in die Augen. Und als wir dann achteinhalb Stunden und 24 Kilometer nach unserem Aufbruch in Ausserberg das letzte Ziel unserer Reise erreicht haben... da sind wir einfach nur müde. Unser Glück fassen wir erst nach einer Dusche und einer ordentlichen Portion Tomatenspaghetti: Wir haben's geschafft! 340 Kilometer zu Fuss aus eigener Kraft!
26.7.2020
Es ist mein Blick für das Wesentliche...
...der sich durch diese Reise geschärft hat. Ich habe meine gewohnte Komfortzone verlassen und mein Fokus auf die Dinge hat sich tatsächlich verschoben. Denn jeden Tag musste ich meine ganze Energie einzig auf meinen nächsten Schritt und meinen nächsten Atemzug konzentrieren. Jeden Tag hatte ich von Neuem mit selbst zu kämpfen und musste mir Mut zusprechen. Bedeutend waren nur das Unterwegssein mit Lukas und der aktuelle Moment. Mit jedem einzelnen Schritt in Richtung unseres Ziels habe ich nicht nur Distanz zu so viel Unwichtigem gewonnen, sondern gleich auch noch eine Handvoll unnützen Ballast abgeworfen.
Die Reise hat mich gelehrt, dass ich stark genug bin und erreichen kann, was immer ich will, selbst wenn der Weg anstrengend ist. Ich habe erneut gelernt, dass es ganz alleine an mir liegt, ob ich diesen Weg positiv sehen will, oder ob ich zulasse, dass mich Negatives zu Boden drückt. Und vor allem habe ich einmal mehr gespürt, wie dankbar ich bin, dass Lukas und ich schon so lange Zeit gemeinsam unterwegs sein dürfen und schon soviele Hürden gemeinsam gemeistert haben. Selbstverständlich ist das nämlich nicht!
Ja, es ist wirklich so gekommen, wie ich es mir gewünscht habe: Diese Reise zu Fuss hat meinen Willen bestärkt, dass ich weiterhin das tun werde, was ich wichtig finde im Leben. Und das mit Vollgas und Freude.

